Der Mensch ist das einzige irdische Tier, das eine Sprache höherer Komplexität entwickelt hat. Unser Denken erfolgt zwar in Sprache, wird aber stets von inneren Bildern begleitet. Das geht natürlich auch ohne Sehsinn, schließlich gibt es genug Menschen, die blind geboren werden, und trotzdem bildliche Assoziationen, Erinnerungen und Träume haben. Über die verbliebenen Sinne und insbesondere den Tastsinn können also auch räumliche und damit bildliche Vorstellungen entwickelt werden.
Menschen imaginieren aber nicht nur, sie kommunizieren auch ständig visuell mit der Außenwelt, etwa durch Gestik, Mimik und andere optische Zeichen. Das kann bewusst oder unbewusst erfolgen. Denken Sie z.B. an den berühmten ersten Eindruck. Zahlreiche Studien belegen, dass bereits wenige Zehntelsekunden ausreichen, damit sich ein unbewusster Eindruck vom Gegenüber manifestiert. Dieser wird nonverbal erzeugt, also durch Sinneseindrücke, die nicht sprachlich geformt sind. Meist sind dies rein visuelle Merkmale, aber es können mit dem Körpergeruch oder dem Klang der Stimme natürlich auch andere Sinne einbezogen werden. Der Sehsinn ist allerdings mit Abstand der wichtigste. Tatsächlich nimmt der Mensch ca. 80 Prozent aller Informationen über die Augen auf. Zudem haben Menschen die Fähigkeit, sich Gesehenes hervorragend zu merken (insbesondere Gesichter) und diese Inhalte auch nach langer Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die Bezeichnung „Augentier“ hat sich der Mensch also redlich verdient.
Sie können sich den Prozess des Sehens übrigens ähnlich vorstellen wie bei der elektronischen Signalverarbeitung. Mit jedem Wimpernschlag werden hohe Datenmengen auf der Netzhaut erzeugt. Der Sehnerv des menschlichen Auges überträgt von dort jede Sekunde Millionen von Bits zur Weiterverarbeitung in den visuellen Cortex. Bis der Seheindruck im Bewusstsein ankommt, vergehen tatsächlich einige Millisekunden (etwa 150 bis 200). Alles, was wir gerade sehen, ist also in der Vergangenheit passiert. Wobei diese Zeitversetztheit ein grundsätzliches Phänomen ist, das alle Sinneseindrücke betrifft, schließlich muss Licht immer erst zum Auge gelangen und der Schall zum Ohr, bevor es in den Nervenbahnen weiter geht. Das eigentliche Wunder besteht allerdings darin, dass die Sinnesdaten am Ende einem Selbst „bewusst“ werden und von diesem Bewusstsein interpretiert werden können. Aber das nur anbei.